Askese: Ist es sinnvoll, sich gelegentlich in Verzicht zu üben?
Die turbokapitalistische Leistungsgesellschaft der westlichen Welt ist ein seltsames Phänomen: Erst wenige Jahrzehnte alt und von der Menschheit selbst entwickelt, wirkt sie auf die meisten Menschen alternativlos und unveränderbar, als sei sie ein Naturgesetz. Das System ist eingefahren und bewährt sich scheinbar – doch wem nützt es eigentlich außer einem abstrakten Konstrukt wie „der Wirtschaft“ und einer exklusiven Elite?
Die meisten Tiere der Welt leiden unter Ausbeutung, die Bevölkerung der dritten Welt leidet unter Ausbeutung, und nicht einmal alle Menschen ebendieser Leistungsgesellschaft sind glücklich. Ob psychische Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen oder körperliche Leiden wie Diabetes, Rückenschmerzen, Übergewicht, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – die moderne Welt ist voller Krankheiten, die inzwischen unter dem bezeichnenden Namen Zivilisationskrankheiten zusammengefasst werden. Sie nehmen manchen Menschen die Lebensfreude, anderen sogar das Leben – und das inmitten eines scheinbaren Paradieses aus unbegrenzten Auswahlmöglichkeiten an Nahrungsmitteln, Reisezielen, Kleidung, technischer Geräte, Freizeitbeschäftigungen und vielem mehr.
Der moderne Mensch in Europa hat – materiell gesehen – im Normalfall alles, was er für ein gutes Leben braucht, aber sein Leben ist oft vollkommen überfrachtet. Die Tage sind durchgetaktet und voller Arbeit, Verpflichtungen und Freizeitterminen. Der Speiseplan ist voll von den fertigen süßen und herzhaften Erzeugnissen der Lebensmittelindustrie. Die Häuser und Wohnungen sind voller Konsumgüter, von denen einige gekauft wurden, um nie verwendet zu werden.
In diesem Durcheinander verlieren sich Menschen selbst. Sie haben Ansehen, Geld, Statussymbole wie ein Haus und ein teures Auto. Aber sie haben oft keine Zeit mehr, um einfach um ihrer selbst willen zu existieren und nichts zu tun. Sie verlieren den Blick für die grundlegenden Dinge des Lebens wie die Zubereitung oder gar Herstellung von Nahrung oder die bewusste Beschäftigung mit Kindern und sie haben oft keine Zeit, um über ihre eigene Identität und darüber nachzudenken, was sie bewegt, erfreut oder abstößt.
Ein Weg raus aus diesem zermürbenden und krankmachenden Alltagstrott ist die Askese, die in der heutigen Betrachtungsweise von Religion weitgehend losgelöst ist und schlichtweg für den
Verzicht auf und Enthaltsamkeit von all den Dingen und Gewohnheiten steht, die das moderne Leben so sehr prägen und stressen.
Die moderne Askese: Bewusster Verzicht auf die Freuden und Übel der Konsumgesellschaft
Unter Askese verstehen die meisten Menschen heute den Verzicht auf all die Dinge, die ihren Alltag bestimmen. Das Verhältnis zu diesen Errungenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts ist häufig ambivalent: Sie machen Spaß, die erleichtern den Alltag. Aber sie ermüden und nerven auch. Dies sind zum Beispiel:
- Digitale Medien, allen voran das Smartphone. Es steht für zwei Dinge, die genauso vorteilhaft sind, wie sie auch lästig werden können: Ständige Erreichbarkeit und ständige Verfügbarkeit. Dadurch, dass das Handy handlich und fast immer griffbereit ist und so viele Möglichkeiten bietet, Kontakt aufzunehmen, ist ihr Besitzer ständig erreichbar. Anrufe, Messenger, SMS oder Email: Das Smartphone ist ein vielseitiger Kommunikationskanal und piepst und läutet bei vielen Menschen den ganzen Tag. Und dann ist da noch die ständige Verfügbarkeit. Ein Smartphone hat alles: Das gesamte Wissen des Internets, Social Media, eine Kamera, Spiele, Musik und Filme und vieles mehr. Es verführt dazu, sich ständig länger damit zu beschäftigen, als man eigentlich wollte und hinterher gestresst zu sein.
- Drogen wie Alkohol und Tabak. Jeder kennt ihre verheerenden Wirkungen, aber aus gelegentlichem Genuss wird Gewohnheit und aus Gewohnheit wird Sucht, die so weit geht, dass Menschen gesundheitliche Beschwerden und einen früheren Tod billigend in Kauf nehmen. Hinzu kommt, dass viele Menschen Alkohol trinken oder rauchen, um den Alltagsstress ihres Lebens abzufedern. Ferner ist Drogenkonsum auch noch mit hohen Kosten verbunden. Das beanspruchte Geld wäre an anderer Stelle sicher besser investiert!
- Materielle Konsumgüter. Ob Kleidung, Autos, technische Geräte, Bücher, Kosmetik oder Dekoration – die Aufgabe des Menschen in der Konsumgesellschaft ist es, zu konsumieren und genau deshalb wird suggeriert, es mache glücklich, möglichst viele Dinge zu besitzen. Die Realität sieht bei vielen Menschen anders aus: Nach dem Kauf stellt sich kein Glücksgefühl ein, weil es total normal und eine Gewohnheit ist, sich ständig etwas zu kaufen. Viele der Dinge nerven dann bald, weil sie überall herumliegen und oftmals nicht gebraucht werden.
- Immaterielle Konsumgüter. Dazu gehören Friseurbesuche, Konzerte, das Eis im Eiscafé und vieles mehr. Statt Platz kosten diese Dinge Zeit und obwohl sie Spaß machen sollen, empfinden viele Menschen gar nichts mehr oder nur wenig dabei, diese Dinge zu tun, weil sie so alltäglich und selbstverständlich geworden sind.
- Ernährung. Aufgrund von langen Arbeitszeiten und all dem Konsumstress in der Freizeit, haben sich zahlreiche Menschen eine Ernährungsform angewöhnt, die nicht lange zubereitet werden muss. So ernähren sie sich von Fast Food, Fertiggerichten, Snacks wie Schokoriegeln und erledigen ihre Einkäufe schnell und achtlos, ohne Berücksichtigung der Nährwerte, der Herstellungsbedingungen oder der aktuellen Saison.
Askese ist dauerhaft oder in Phasen möglich
Askese kann dauerhaft gelebt werden, aber auch in Phasen der Erholung vom Alltag. Natürlich kommt es auch immer auf das Ausmaß der Askese an, was ein Beispiel aus dem Bereich Ernährung deutlich macht: Ein Mensch kann sich dauerhaft vegan ernähren. Auch ausschließlich regionale Produkte der Saison zu sich zu nehmen ist für besonders willensstarke Menschen umsetzbar. Aber Heilfasten kann niemand länger als ein paar Tage, denn jeder noch so enthaltsame Körper braucht Nahrung.
Eine besonders intensive Form der vorübergehenden Askese ist es, während der Phase des Verzichts sein Zuhause zu verlassen, um zum Beispiel für eine Weile ins Kloster oder auf einen Bio-Bauernhof zu ziehen oder sich auf den Weg zu einer größeren, womöglich länderübergreifenden Wanderung zu machen.
Verzicht erleben: Was lernen Menschen aus der Askese?
Menschen leben heutzutage nicht ganz oder phasenweise asketisch, weil sie sich selbst geißeln wollen oder um irgendwelche religiösen Ideale zu verwirklichen. Sie tun es, weil sie sich einen positiven Effekt davon versprechen, nämlich Stressbewältigung und seelische Ruhe. Da eine asketische Phase auch fast immer eine Reduzierung von Verpflichtungen und Terminen mit sich bringt, können Menschen die dadurch gewonnene Zeit nutzen, um Spaziergänge zu machen, über sich selbst und die eigenen Bedürfnisse nachzudenken und dadurch zu erkennen, was und wer ihnen wirklich wichtig ist.
Selbst dann, wenn eine asketische Lebensphase wieder endet, kann der Alltag dank der neuen Erkenntnisse angepasst und verbessert werden. Die eine oder andere Freizeitaktivität wird zugunsten von mehr Ruhe und Zeit an den Nagel gehängt, der eine oder andere Kontakt zu losen Bekannten zugunsten von engen Freundschaften oder mehr Zeit für die Familie auf ein Minimum reduziert.
Manche Menschen krempeln ihr Leben nach einer Askese sogar komplett um, indem sie sich zum Beispiel beruflich neuorientieren, nachdem sie festgestellt haben, dass ihr Berufsleben sie auslaugt und unglücklich macht.
Askese ist außerdem eine hervorragende Chance, schlechte – wenn auch leider oft liebgewonnene – Gewohnheiten abzulegen. Die asketische Lebensphase zeigt, dass es auch ohne geht, und wenn die Gewohnheit nach der Askese doch wiederaufgenommen wird, dann ist es einfacher, sie nach der Zeit der kompletten Enthaltsamkeit in Maßen wiedereinzuführen. Wer zum Beispiel zu viel Fleisch oder Süßigkeiten isst oder zu viel Alkohol trinkt und in der Askese vegan und zuckerfrei lebt und nur Wasser trinkt, hat die Chance, diese Dinge danach als Besonderheit anstatt als Selbstverständlichkeit zu begreifen und beispielsweise den Sonntagsbraten oder den wöchentlichen Kuchennachmittag einzuführen.
Unter einer Askese im Bereich der Ernährung verstehen die meisten Menschen eine möglichst einfache und natürliche Art, sich zu ernähren: Regional, saisonal, überwiegend pflanzlich und wenig gewürzt. Das schärft das Bewusstsein dafür, was in der Region wann verfügbar ist und gewöhnt die Menschen wieder an den ursprünglichen Geschmack von Lebensmitteln.
Auch in finanzieller Hinsicht kann eine asketische Phase neue Erkenntnisse bringen. Wer weniger konsumiert und dafür zum Beispiel mehr selbst macht oder einfachen Beschäftigungen nachgeht, wie im Wald spazieren zu gehen, spart ganz automatisch Geld. Und dieses Geld ist dann plötzlich verfügbar. Es kann als ein finanzielles Polster dienen und in Notzeiten anstelle eines Kredits genutzt werden.
Oder es wird in Dinge investiert, die einem wirklich wichtig sind, zum Beispiel gesunde Ernährung, wohltätige Zwecke oder eine oder mehrere Reisen. Außerdem wird deutlich, dass man auch mit weniger Ausgaben zurechtkommen kann, was die eine oder andere Person dazu anregen könnte, darüber nachzudenken, ob materieller Wohlstand wirklich so wichtig ist, wie die Gesellschaft es suggeriert. Askese könnte also auch interessant für all diejenigen sein, die hohe Schulden haben und bereits eine Schuldnerberatung in Anspruch nehmen mussten.
Somit wird das, was anfänglich als Verzicht wahrgenommen wird, zur Befreiung, denn die asketische Person löst sich ganz oder teilweise von Dingen, die sie zwar gewohnt ist, die ihr aber eigentlich schaden. Wer im schnelllebigen Alltag drinsteckt, sieht sie als ganz selbstverständlich an. Erst die Askese zeigt, was wir wirklich brauchen – und Fast Food, zu viel Fleisch und Alkohol, unzählige, immer mehr neue Konsumgüter oder zahlreiche, die Woche ausfüllende Freizeittermine gehören nicht dazu!
Um nun zur anfänglichen Frage zurückzukommen: Bei all den Chancen, die eine Askese bietet, ist es durchaus sinnvoll, sich gelegentlich in Verzicht zu üben. Das Ergebnis kann mit jeder asketischen Phase ein immer schönerer, ruhigerer und auf die eigenen Bedürfnisse fokussierter Alltag sein, in dem das Geld nicht sinnlos ausgegeben, sondern nur in Dinge investiert wird, die einem wirklich wichtig sind und einen hohen Mehrwert bieten!